Hörverlust und Demenz

von (Kommentare: 0)

Hörverlust und Demenz: Was Hörgeräte wirklich leisten

Demenz gehört zu den größten gesundheitlichen Herausforderungen unserer Zeit – und Hörverlust steht zunehmend im Fokus der Forschung. Die Frage liegt nahe: Wenn schlechtes Hören ein Risiko ist – schützen uns dann Hörgeräte? Oder ist das nur geschicktes Marketing?

Die Antwort ist komplexer als viele Werbebroschüren vermuten lassen. Es gibt gute Gründe für eine rechtzeitige Hörversorgung – aber ebenso gute Gründe, kritisch zu bleiben, wenn aus Studien plötzlich Verkaufsargumente werden.

Hörverlust als Risikofaktor – aber kein Auslöser


Die Lancet Commission on Dementia Prevention (Livingston et al., 2020) zählt unbehandelten Hörverlust zu den wichtigsten beeinflussbaren Risikofaktoren für Demenz – neben Bluthochdruck, Depression, Diabetes oder sozialer Isolation.

Das bedeutet: Schwerhörigkeit erhöht das Risiko – sie löst aber keine Demenz aus. Und vor allem: Kein einzelner Faktor entscheidet über das Schicksal eines Menschen.

Wer also sagt, „Hörgeräte verhindern Demenz“, ignoriert die Vielschichtigkeit dieser Erkrankung – und macht aus Statistik ein Versprechen, das nicht haltbar ist.

Was die ACHIEVE-Studie wirklich zeigt
Die ACHIEVE-Studie (JAMA, 2023) war die erste randomisierte Langzeitstudie, die untersuchte, ob Hörgeräte einen Einfluss auf den kognitiven Abbau im Alter haben. Und ja: Die Ergebnisse sind interessant – aber nicht so eindeutig, wie manche tun.

Im Gesamtkollektiv zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen Hörgeräte-Träger:innen und der Kontrollgruppe ohne Intervention. Erst in einer Untergruppe – älteren Personen mit erhöhtem Demenzrisiko – zeigte sich ein kleiner kognitiver Vorteil.

Die Autoren selbst mahnen zur Vorsicht: Die Ergebnisse gelten nicht für alle Menschen mit Hörverlust. Sie sind Hinweis, aber kein Beweis.

Blustein, Golub und Tremblay: Kritische Stimmen aus der Wissenschaft
Die US-Gesundheitsforscherin Judith Blustein (2020) warnte bereits vor den Risiken „kognitiver Versprechen“ in der Hörgerätewerbung. Ihr Vorwurf: Wer aus einer Korrelation eine Heilsbotschaft macht, verkennt die Komplexität des Themas – und gefährdet die Glaubwürdigkeit der gesamten Branche.

Auch Chern & Golub (2019) weisen darauf hin, dass es zwar Zusammenhänge zwischen Hörverlust und Demenz gibt – die Ursachen aber vielfältig sind. Von Mikrogefäßveränderungen bis hin zu veränderter Gehirnaktivität sind viele Mechanismen denkbar.

Tremblay (2021) bringt es auf den Punkt: „Hearing loss is not a cause of dementia. But it is one burden the brain shouldn’t have to carry alone.“

Hörgeräte können entlasten – nicht heilen


Was Hörsysteme leisten können, ist dennoch bemerkenswert: Sie verbessern das Sprachverstehen, reduzieren Höranstrengung, fördern soziale Teilhabe. Und sie entlasten das Gehirn – das zeigen zahlreiche Studien zu listening effort (Tremblay & Backer, 2016; Miles et al., 2017).

Denn Hören ist kein rein sensorischer Prozess. Wer schlecht hört, muss ständig raten, kontextualisieren, kompensieren. Das kostet Energie – und die fehlt dann fürs Denken, Erinnern, Planen.

Hörgeräte nehmen dem Gehirn also Arbeit ab. Aber: Sie ersetzen keine Demenzprävention. Und sie sind keine Garantie für geistige Gesundheit im Alter.

Ein kritischer Blick auf die Werbung


Viele Menschen hören heute zum ersten Mal von der ACHIEVE-Studie – nicht durch Fachmedien, sondern durch Anzeigen. Und dort heißt es dann schnell: „Hörgeräte helfen gegen Demenz!“ oder „Schützen Sie Ihr Gehirn mit moderner Hörtechnik!“

Das ist gefährlich.

Zum einen, weil es falsche Erwartungen weckt. Zum anderen, weil es das Vertrauen in echte Präventionsarbeit untergräbt. Wer übertreibt, verspielt seine Glaubwürdigkeit – auch wenn die Grundbotschaft stimmt.

Ein persönliches Beispiel


Stellen Sie sich eine 70-jährige Frau vor, die sich immer mehr aus dem Gespräch zurückzieht. Nicht, weil sie einsam ist – sondern weil sie im Café nichts mehr versteht. Ihr Gehirn arbeitet, aber es reicht nicht. Sie nickt, lächelt, schweigt – und wird still.

Ein gutes Hörgerät gibt ihr nicht die Jugend zurück. Aber es gibt ihr Sprache, Teilhabe, Leichtigkeit. Und vielleicht den Mut, wieder Fragen zu stellen.

Fazit: Hörversorgung ist wichtig – aber keine Wundermedizin


Hörgeräte sind kein Allheilmittel. Aber sie sind eine Chance – für mehr Teilhabe, mehr Leichtigkeit, weniger kognitive Last.
Sie können das Risiko nicht ausradieren – aber sie können helfen, das Leben besser hörbar zu machen.

Und das ist, gerade im Alter, mehr wert als jede Schlagzeile.

Mehr Informationen finden Sie auf der Seite: Hören im Alter

Maximilian Bauer beschäftigt sich mit der Schnittstelle von Hören, Wahrnehmung und Gehirn. Als Audiologe mit klinischer Ausbildung legt er Wert auf wissenschaftlich fundierte, aber verständliche Aufklärung – besonders bei komplexen Themen wie Tinnitus oder kognitiver Belastung.

Quellen (Auswahl):

Livingston et al. (2020): Lancet Commission on Dementia Prevention
Chern & Golub (2019): Age-Related Hearing Loss and Dementia
Blustein (2020): Marketing Claims About Hearing Aids and Dementia Prevention
Tremblay (2021): Hearing Loss and Cognitive Decline
ACHIEVE Trial (2023): JAMA, Vol. 330(13)
Tremblay & Backer (2016): Listening Effort in Older Adults
Miles et al. (2017): Pupillometry as a Measure of Listening Load


Über den Autor

Max Bauer

Maximilian Bauer, MSc. Clinical Audiology
Maximilian Bauer gilt als erfahrener Experte für Hörsystemversorgung, moderne Hörakustik und ethische Beratung im Gesundheitswesen. Er verbindet handwerkliche Präzision mit akademischem Wissen und setzt sich für eine transparente, menschenorientierte Hörversorgung ein.

www.hoergeraete-insider.de


Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Was ist die Summe aus 2 und 9?

Zurück

Newsletter

Mit einer Anmeldung für unseren kostenfreien Newsletter erhalten Sie regelmäßig aktuelle Informationen rund um unser Unternehmen. Zudem erhalten Sie kostenfrei den Downloadlink zur begehrten Hörakustiker-Checkliste.