Die Geschichte der Tinnitusbehandlung

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Was gegen Ohrgeräusche schon alles versucht wurde

Steinzeitmann aus dem Neandertal Symbolbild

Tinnitus ist kein neues Phänomen. Auch wenn es sich manchmal so anhört, als käme er direkt aus der Bluetooth-Hölle moderner Technik – Ohrgeräusche begleiten die Menschheit vermutlich schon so lange, wie es Ohren gibt.

Was sich geändert hat, ist nicht das Geräusch. Sondern das, was wir darüber denken – und was wir dagegen tun. Hier kommt ein Rückblick auf die Geschichte der Tinnitusbehandlung: mal ernst, mal absurd, aber immer lehrreich.

Wenn der Höhlenmensch brummt: Die Frühzeit

Natürlich wissen wir nicht, ob Neandertaler an Tinnitus litten – aber sie kannten Lärm, Jagd, Stress, Verletzungen, Feuer und Schädeltrauma. Wahrscheinlich hörte es auch in der Steinzeit schon mal in einem Ohr „nie wieder auf“. Geholfen hat man sich mit Pflanzen, Ruhe oder dem Gegenteil: Ritualen, Schamanen, Trommeln.

Was daraus wurde, nannte man später: Naturheilkunde oder Aberglaube – je nach Perspektive.

Antike: Körpersäfte, Gleichgewicht und erste Diagnoseversuche

In der griechischen Antike beschrieb Hippokrates Ohrgeräusche als Folge eines gestörten „Säftegleichgewichts“. Die logische Therapie? Aderlass, Bewegung und Diät. Später empfahl Celsus warme Öle, Kräuterdämpfe oder sogar den Einsatz von gebranntem Kupfer – eingeführt direkt ins Ohr.

Heute würden wir sagen: Man wusste nicht, woher der Tinnitus kam – aber man meinte es gut.

Quelle: Celsus, De Medicina, Buch VI

Mittelalter & Frühe Neuzeit: Wenn's rauscht, ist der Teufel nicht weit

Im Mittelalter wurden Ohrgeräusche mit Dämonen, Sünden oder unreiner Lebensführung in Verbindung gebracht. Therapie? Weihwasser, Räucherungen, Fasten, Beten. Oder wahlweise Quecksilber. Später versuchte man es mit Essig, Schafshirn, Opium oder dem Einträufeln von Olivenöl mit Knoblauch.

Die Behandlung wurde vielfältiger. Die Wirkung blieb – sagen wir: diskret.

19. Jahrhundert: Jetzt wird's akademisch

Mit der aufkommenden Ohrenheilkunde tauchten erstmals Begriffe wie Tinnitus aurium („Ohr-Tinnitus“) und Tinnitus cranii („Kopf-Tinnitus“) auf. Ärzte wie Adam Politzer oder Joseph Toynbee begannen, das Phänomen ernsthaft zu untersuchen. Man suchte Ursachen im Mittelohr, in der Durchblutung, in der Schädelakustik.

Die Therapien reichten von Glasbläserrohren zur Tubenbelüftung bis zu Zinksalben, Elektrostimulation – und den ersten Versuchen mit Hörhilfen.

Quelle: Politzer A., Lehrbuch der Ohrenheilkunde, 1878

20. Jahrhundert: Alles versucht – nichts bewiesen

Es gab und gibt viele Ansätze:

  • Durchblutungsfördernde Mittel (Procain, Ginkgo, Pentoxifyllin)
  • Beruhigungsmittel (Benzodiazepine, später Antidepressiva)
  • Psychotherapie, autogenes Training, Hypnose
  • Hörtherapie mit Rauschen, Musik oder individuell gefilterten Klängen
  • Erste Versuche mit Akupunktur, Laser oder Magnetfeldern

Tinnitus wurde vom „Lärm im Ohr“ zum multifaktoriellen Symptom – manchmal nervlich, manchmal hörbedingt, manchmal einfach ein Mysterium.

Quelle: Tyler R.S. (Hg.), The Tinnitus Handbook, 2000

Heute: Zentrale Reizverarbeitung und Gehirnplastizität

Die moderne Audiologie versteht Tinnitus als Verarbeitungsphänomen im Hörsystem, oft in Kombination mit Stress, Hörverlust oder Fehlanpassungen im neuronalen Gleichgewicht. Die Behandlung ist heute so individuell wie die Ausprägung:

  • Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT)
  • Kognitive Verhaltenstherapie (CBT)
  • Neuromodulation & Neurofeedback
  • Angepasste Hörgeräte mit Tinnitus-Management-Funktion
  • Begleitende Maßnahmen wie Magnesium, Q10 oder NAC – wissenschaftlich sinnvoll, aber kein Heilversprechen

Quelle: Jastreboff & Hazell, Tinnitus Retraining Therapy, 2004; Langguth B. et al., The Tinnitus Network, 2013

Fazit: Vom Aderlass zur Anpassung

Die Geschichte der Tinnitusbehandlung ist vor allem eines: ein Spiegel unserer Zeit. Was früher als Strafe galt, wird heute als Signal des Körpers oder der Reizverarbeitung verstanden. Und was früher mit Kupferblech und Knoblauch bekämpft wurde, wird heute mit Neuroplastizität, Hörtraining und Verhaltenstherapie begleitet.

Tinnitus bleibt ein hartnäckiger Begleiter – aber das Verständnis wächst. Und mit ihm die Möglichkeit, den Umgang zu verändern. Denn manchmal reicht schon ein Perspektivwechsel, um aus dem störenden Geräusch einen Hintergrundklang zu machen.


Über den Autor

Max Bauer

Maximilian Bauer, MSc. Clinical Audiology
Maximilian Bauer gilt als erfahrener Experte für Hörsystemversorgung, moderne Hörakustik und ethische Beratung im Gesundheitswesen. Er verbindet handwerkliche Präzision mit akademischem Wissen und setzt sich für eine transparente, menschenorientierte Hörversorgung ein.

www.hoergeraete-insider.de


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